Wie beginnt ein Leben? Wie begann mein Leben? Ich habe keine Ahnung. Ich erwachte einfach eines Morgens, nackt, irgendwo mitten im Nirgendwo. Die einzigen schemenhaften Erinnerungen, die ich noch hatte, waren Situationen, in denen ich nah am Waldboden gelaufen war. Ein komisches Gefühl im Körper gehabt hatte. Als wäre der Körper, welchen ich gehabt hatte, nicht mein jetziger Körper war. Die Erinnerungen waren von einem kleineren Körper. Zierlicher. Wendiger. Doch genaueres wusste ich wirklich nicht. Zu meinem Glück fand mich ein Rudel Wölfe. Wobei nein, das ist auch nicht richtig. Werwölfe, wie ich erfuhr. Sie konnten zwischen der Gestalt eines Menschen und eines Wolfes wechseln, wie es ihnen beliebte. Sie nahmen mich mit zu sich nach Hause. Und halfen mir, mich aufzupäppeln. Erst mal wieder Fuß zu fassen. Denn nicht mal an meinen Namen erinnerte ich mich. Aufgrund eines sichelförmigen Mals an meinem Handgelenk nannten sie erst einmal “Luna”.
Aber was soll ich sagen, auch nach zwei Wochen konnte ich mich an nicht mehr erinnern als zuvor. Doch um ihre Gastfreundlichkeit nicht überzustrapazieren, zog ich meines Weges. Sie hatten mir Kleidung gegeben, ein Handy, sodass ich sie jederzeit wieder erreichen konnte, wenn ich Hilfe brauchte, doch ich wollte es alleine schaffen. Es war nötig. Wenn ich meine Erinnerungen wiederfinden wollte. Vielleicht würde mir ja jemand begegnen, der mich kannte. Den ich kannte. Sicher hätte ich auch zum Arzt gehen können. Aber irgendwie sträubte sich alles in mir, bei dem Gedanken an Ärzte. Mir stellten sich sogar die Nackenhaare auf. Während ich alleine unterwegs war hatte ich dann zum ersten Mal seit meinem Erwachen Träume. Wie eine Katze durch die Wälder strich, wie sie in den Städten unterwegs war, wie sie bei einer Familie war, geliebt wurde. Bei dem Gedanken wurde mir warm ums Herz. Ich fühlte mich zu der Familie verbunden. Zu ihr hingezogen. Und irgendwie führten mich meine Schritte am nächsten Tag auch zu einem Haus, wo ich das Mädchen sah, von dem ich geträumt hatte. Ihre warmen Augen waren mir so vertraut, ihre Stimme erdete mich. Es fühlte sich nach Zuhause an. Irgendwie aber auch nicht. Wieder hatte ich das Gefühl, im falschen Körper zu stecken. Weshalb ich die Familie auch nicht ansprach. Ich hatte schon das Gefühl, dass ich nur komisch angeschaut werden würde. Dass man sich in meiner Gegenwart nicht wohl fühlen würde. Daher zog ich weiter.
Ein paar Stunden später begegnete ich dann einer jungen Frau. Ich wäre tatsächlich einfach an ihr vorbeigelaufen, wäre sie nicht stehen geblieben und hätte mich mit einem ungläubigen “Mom?” gestoppt. Es war verwunderlich, denn sie schien sogar etwas älter als ich zu sein. Meine Neugier war dennoch geweckt und ich folgte ihr. Zuhause, wie sie es nannte, zeigte sie mir dann Fotoalben. Es gab tatsächlich Fotos von mir mit ihr und mit einem mir fremden Mann, ihr Vater, wie sie mir erklärte. Erinnerungen rief es jedoch nicht hervor. Als sie mir dann jedoch einen Ring, schlicht aus Gold, mit einem einzelnen, eingearbeiteten schwarzen Diamanten brachte, zog mich etwas zu diesem Ring. Weshalb ich ihn ohne nachzudenken überstreifte. Er saß wie angegossen, als würde er zu meinem Finger gehören. Was er auch tat, denn es schien, als würde das Metall sich in meine Haut bohren und mit ihr verwachsen. Und dann trafen mich die Erinnerungen wie ein Schlag. Leben nach Leben zogen vor meinem inneren Auge vorbei, erinnerten mich daran, wer ich war. Was ich war. Erinnerten mich an all meine Vergangenheiten, die ich gehabt hatte. Erinnerte mich an mein letztes Leben, in dem ich gestorben war durch die Risse in den Dimensionen. Diese Risse hatten mein Gleichgewicht gestört. Das Gleichgewicht meiner Magie. Ich erinnerte mich, dass ich den Beginn dieses Lebens in meiner Katzengestalt verbracht hatte. Bei der Familie, die ich vorher besucht hatte. Weshalb sie mir so vertraut gewesen waren. Und die junge Frau, bei welcher ich nun war, tatsächlich meine Tochter aus dem vorherigen Leben war. Und der Mann auf den Fotos war mein Ehemann gewesen, welcher jedoch verschwunden war, ihrer Aussage nach. Das Haus, in welchem wir uns befanden, war mein Haus. Das hatten er und ich gemeinsam gebaut. Nach all dieser Flut an Erinnerungen und Informationen musste ich es erst einmal verarbeiten. Nahm mir die Zeit, las aber auch in meinen stets geführten Tagebüchern. Elf an der Zahl, für elf Leben. Verbunden mit dem Ring, welcher meine Magie kanalisierte, hatten sie immer den Weg zu ihm gefunden, zu mir. Manche der elf Leben waren lang gewesen, ich war teilweise an die hundert Jahre geworden. Andere hingegen waren beendet worden, kaum dass ich erwachsen geworden war. Jedes Leben hatte ich anders genutzt. Mal war Familie mein Fokus gewesen, mal war Wissen wichtiger gewesen. Doch stets hatte ich der Natur und der Umwelt etwas Gutes getan, egal auf welche Art.
Die nächsten Tage verbrachte ich nun damit, mir wieder über mich selbst klar zu werden, mir über meine Zukunft Gedanken zu machen, für meine Magie langsam wieder ein Gefühl zu bekommen. Wobei ich noch nie jemand gewesen war, der viel davon nutzte. Hier und da mal etwas Kleines, doch wenn ich ehrlich war, war sie für mich nur eine Notlösung. Mit meiner Tochter verbrachte ich viel Zeit, lernte sie neu kennen und lieben. Und begann dann, mir wieder ein eigenes Leben aufzubauen. Auf Grund früherer Leben war es mir ein Leichtes, mein Wissen zu nutzen, um einen guten Job zu bekommen. Weshalb ich in Eden auch einen Job als Professorin an einer der elitären Privatuniversitäten erhielt. Natürlich mit einem gefälschten Lebenslauf, aber sind wir mal ehrlich: Mit meinen vergangenen Erfahrungen und den heutigen Wesen, welche in dieser Welt leben, wer schaute noch genau darauf? Und mein Boss war ebenso jemand, der alt war, also wirklich alt, auch wenn man es ihm nicht ansah. Er kannte mich von früher. Er wusste, dass ich mich in meinem Fachgebiet auskannte. Weshalb ich die zukünftigen Kardiologen unterrichten durfte.

Du bist meine Tochter aus meinem vorherigen Leben. Als ich starb warst du mindestens 18 (außer dein Vater war zu dem Zeitpunkt noch nicht verschwunden). Seit dem sind 35 Jahre vergangen, in denen du weiterhin im Haus, welches er und ich gebaut haben, gelebt hast. Du hast nach mir gesucht, in der Hoffnung, dass ich noch ein Leben habe. Und in der Hoffnung, dass ich so aussehe, wie du mich kennst. Meinen Ring, welcher meine Magie kanalisiert, und meine Tagebücher hast du aufbewahrt für den Fall, dass ich mich nicht an meine Vergangenheiten erinnern kann. Was mir bereits einmal passiert ist, was ich dir erzählt hatte. Jedenfalls sind wir uns dann zufällig begegnet und du hast mich natürlich erkannt. Einmal, weil unsere Seelen verbunden sind und andererseits weil ich aussehe wie im vorherigen Leben. Dank dir erinnere ich mich nun wieder an alles und lebe wieder mit dir zusammen, auch wenn ich rein körperlich theoretisch jünger bin als du.

Was mit deinem Vater (welchen wir eventuell gemeinsam suchen können nach interner Absprache) geschehen ist möchte ich dir überlassen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist er verschwunden und wir leben zu zweit (außer du hast geheiratet) in unserem Haus im Stadtteil Eden. Ob du mehr ein Mama-Kind oder ein Papa-Kind bist/warst, ist dir überlassen. Dennoch haben wir ein inniges Verhältnis und du schätzt meine Erfahrung und meinen Rat.